Stories Of Our Lives – Was wichtig ist.

Dieses Jahr blicken wir jeden Adventssonntag auf unsere KundInnen, die im Geschäftsbericht 2023 von ihren Hoffnungen und Kämpfen berichtet haben.
Wie geht es den Menschen eigentlich heute? – Wir haben nachgefragt.

Karl Schnoor

© Martin Steffen

Karl Schnoor

(Evangelisches Jugend- und Fürsorgewerk, Berlin)

WICHTIG IST DAS ZUSAMMENGEHÖRIGKEITSGEFÜHL BEIM GEMEINSAMEN MUSIZIEREN.



Nach einem Sturz erlitt Karl Schnoor eine Hirnblutung und einen Schlaganfall und ist dadurch linksseitig gelähmt. Er wohnt in der spezialisierten Wohngruppe des EJF „Lebensräume Berlin – Verbund Darßer Straße“. Vor seinem Unfall übte er als Gitarrist für klassische und spanische Musik bis zu sechs Stunden am Tag und hatte mit seinem Duo-Partner regelmäßige Auftritte. Das inklusive Musikprojekt „Werkstatt Utopia“ eröffnete ihm eine unerwartete musikalische Perspektive, denn hier spielt er einhändig Schlagzeug. Bisheriger Höhepunkt: der Auftritt bei den Special Olympics vor dem Brandenburger Tor vor Tausenden Zuschauern.

Das inklusive Musikprojekt „Werkstatt Utopia“ eröffnete Ihnen am Schlagzeug eine neue Perspektive. Sind Adventskonzerte oder andere Musikprojekte geplant?

„Ein besonderes Konzert findet direkt heute am ersten Adventsonntag statt: Das Utopia Orchester lädt anlässlich des Internationalen Tags der Menschen mit Behinderung zum alljährlichen Sinfoniekonzert ein. In der Heilig-Kreuz-Kirche in Berlin-Kreuzberg nehmen wir das Publikum mit auf eine Reise in die musikalische Welt der Kinos und präsentieren die facettenreiche Filmmusik. Und auch beim Adventlichen Hoffest in den Katholischen Höfen Berlin am 18. Dezember werde ich mit dem Utopia Orchester auftreten.“
 

Welche drei Worte kommen Ihnen spontan in den Sinn, wenn Sie an das Evangelische Jugend- und Fürsorgewerk denken? 

„Da fällt mir als erstes der Berliner Tierpark ein, der direkt gegenüber dem Dr. Janusz Korczak-Haus des EJF liegt. Dann der Rollstuhl, der mich täglich in der spezialisierten Wohngruppe des EJF begleitet und die vielen gemeinsamen Unterhaltungen hier.“ 
 

Eine Weihnachtszeit ohne Lieder ist kaum vorstellbar. Welches Lied darf bei Ihnen im Advent nicht fehlen? 

„Für mich gehört das Lied „Maria durch ein Dornwald ging“ unbedingt zum Advent dazu. Es gibt aus meinem Empfinden heraus kein anderes Weihnachtslied, in dem der Text und die Musik so gut zusammenpassen. Das Lied berührt mich immer wieder."

Sebastian Pertl

© Martin Steffen

Sebastian Pertl

(Deutsches Zentrum für Kinder- und Jugendrheumatologie, Garmisch-Partenkirchen)

WICHTIG IST EINE POSITIVE GRUNDEINSTELLUNG IN ALLEN SITUATIONEN.

Dass man Leistungssport auch mit einer JIA-Diagnose (juvenile idiopathische Arthritis) betreiben kann, stellt Sebastian eindrucksvoll unter Beweis. Von seiner angestrebten Alpin-Ski-Karriere musste sich der heute 15-Jährige früh verabschieden. Stattdessen sattelte er auf die gelenkschonendere Sportart Golf um, nahm bereits in seiner zweiten Saison an den Deutschen Meisterschaften teil und wurde in das Eliteteam des Golfclubs München-Riedhof aufgenommen.

Mit seinem Lebensmotto „Immer das Beste aus einer Situation machen“ ist er Vorbild für viele Sportlerinnen und Sportler, die an chronischen Erkrankungen leiden, und hat zugunsten „seiner“ Rheumaklinik auch schon Benefiz-Turniere organisiert.

Sebastian Pertl, du hast bereits Benefizturniere für das Deutsche Zentrum für Kinder- und Jugendrheumatologie organisiert und wurdest in das Eliteteam des Golfclubs München-Riedhof aufgenommen. Wie ist der Stand der Dinge, was planst du als nächstes und wie geht es dir gesundheitlich im Moment?

„Momentan geht es mir recht gut, auch wenn das Jahr gesundheitlich etwas holprig begonnen hat. Durch die immunsupprimierenden Rheumamedikamente kam es immer wieder zur Reaktivierung des Epstein-Barr-Virus, weshalb ich seit April ohne diese Medikamente auskommen muss. Aber dank der engen Zusammenarbeit mit meinem Orthopäden Dr. Geyer und Frau Dr. Krumrey-Langkammerer von der Rheumaklinik haben wir jedoch eine vielversprechende Alternative gefunden: Eine Therapie mit Ozon hat es mir ermöglicht, fast schmerzfrei die gesamte Saison zu spielen. Zu meinem Erstaunen konnte ein homöopathisches Mittel das Virus bekämpfen. Zugegeben, anfangs stand ich der Behandlung mit Globuli skeptisch gegenüber, aber im Nachhinein bin ich sehr froh, sie ausprobiert zu haben.

Sportlich lief alles super. Mit der Golf-Herrenmannschaft wurden wir ungeschlagen Meister und sind in die DGL-Landesliga aufgestiegen. Unser langfristiges Ziel ist der Aufstieg in die 2. Bundesliga. Zudem wurden wir mit unserer AK16 Mannschaft Bayerischer Vizemeister und bei der Deutschen Meisterschaft haben wir Platz 8 erreicht.

Für mich persönlich war das Jahr auch erfolgreich. Ich konnte mein Handicap von 8 auf 2,9 verbessern. Einen Wehrmutstropfen gab es aber auch: Corona hat mich beim Vorausscheid zur Deutschen Meisterschaft ausgebremst, sodass ich mich dieses Jahr leider nicht für die Deutsche Meisterschaft qualifizieren konnte. Dafür habe ich mir jedoch bei der Clubmeisterschaft als bester männlicher Spieler den Titel „Riedhof Golfer des Jahres 2024“ holen können. Insgesamt war es wieder eine großartige Saison und ich fühle mich im Eliteteam des Golfclub München-Riedhof unter unserem Trainer Christian Moculescu sehr wohl. 

Natürlich mache ich mir auch schon Gedanken bzgl. einer weiteren Benefizveranstaltung für die Rheuma Kinderklinik. Da diese aber noch größer und professioneller aufgezogen werden soll, brauche ich hierzu noch etwas Zeit, um alles zu planen und weitere Kontakte zu knüpfen.“

 

Mit deinem Lebensmotto „Immer das Beste aus der Situation machen“ bist du Vorbild für andere SportlerInnen mit chronischer Erkrankung. Wie hilft dir das Motto im Alltag? 

„Um ehrlich zu sein, denke ich über das Motto im Alltag gar nicht oft nach. Ich gehe einfach meinen Lebensweg weiter, ohne mir über jeden Schritt viele Gedanken zu machen.“  

 

Die Adventszeit hat begonnen. Auf was kannst du währenddessen nicht verzichten? 

„Auf Golf – natürlich – und Schokoladenbrot.“

 

Silke Kirchmann

© Martin Steffen

Silke Kirchmann

(Franziskus-Hospiz, Waldbreitbacher Hospiz-Stiftung)

WICHTIG IST, DIE MENSCHEN SO ANZUNEHMEN, WIE SIE SIND.


Silke Kirchmann arbeitet seit über 30 Jahren mit sterbenden Menschen und ihren Zugehörigen und weiß um die tägliche Auseinandersetzung mit der uneingeschränkten Akzeptanz der Endlichkeit des Seins – gerade in der letzten Lebenszeit. „Menschen sterben hier“, erläutert sie. „Da geht es zumeist ums Jetzt und Hier.“

Diese Klarheit weiß das Team von 50 Haupt- und 120 Ehrenamtlichen zu schätzen und darum trifft man hier nach dem Motto „Das Beste kommt zum Schluss“ auch durchaus auf Alpakas, Metal Bands oder Opernsänger. Die durchschnittliche Verweildauer beträgt im Hospiz rund 20 Tage. Das ist Leben im Präsens und nicht im Konjunktiv.

Das Motto des Franziskus-Hospiz lautet: „Das Beste kommt zum Schluss“. Gibt es eine besondere Begegnung oder ein Erlebnis im Hospiz, das Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?

„Über besondere Begegnungen könnte ich ein ganzes Buch schreiben und das ziehen wir sogar tatsächlich in Erwägung. Es gibt nicht „die eine“ Geschichte, es gibt vielmehr viele anrührende Erlebnisse. Eins davon wiederholt sich seit einigen Jahren: Vor etlichen Jahren ist am Heiligen Abend eine Frau verstorben. Ihr Mann kommt seitdem zum Heiligen Abend zu uns ins Hospiz und setzt sich in den Raum der Stille, um ihr ganz nah zu sein. Manchmal gesellt sich eine Kollegin dazu und dann erzählt er von seiner Frau – von der Liebe zu ihr, aber auch von den Versäumnissen, die ihn seit ihrem Tod beschäftigen. Weihnachten ist immer eine besonders schwere Zeit für Angehörige, daher ist es jetzt besonders wichtig zuzuhören. Der Mann erzählte mir, dass er durch unsere Arbeit im Hospiz Gutes erfahren hat. So war seine Frau bis zum Schluss schmerzfrei und ansprechbar, sodass die beiden in geborgener Atmosphäre viele Gespräche hätten nachholen können. Die Nähe, die beide in dieser schweren Zeit zueinander empfunden haben, war außerordentlich. Das berührt mich sehr und ich bin gespannt, ob er dieses Jahr wiederkommt."

 

Wie hat Ihre Arbeit die Sicht auf das Leben verändert? 

„Eine wichtige Erkenntnis ist, dass es mit dem Ende vor Augen nur noch um das Hier und Jetzt gehen kann. Wir leben hier klar im Präsens und nicht im Konjunktiv – und das ist auch für das eigene Leben eine wertvolle Erkenntnis. Den Menschen ein Wir-sorgen-für-dich-Versprechen zu geben ist ein erfüllendes Gefühl, das dazu beiträgt, entspannter mit dem Sterben umgehen zu können. Wichtig dabei ist aber, dass es trotzdem keine Garantie für einen guten Tod gibt. Vor allem dann, wenn ungeklärte Situationen im Weg sind. Das ist für jeden von uns eine wichtige Botschaft."

 

Weihnachten steht vor der Tür: Was ist Ihre Lieblingstradition für die PatientInnen und ihre Angehörigen im Hospiz?

„Wir haben klassische Traditionen wie ein gemeinsames Festmahl, und es kommen Kinder aus dem Nachbarkindergarten mit Laternen, die für unsere Gäste singen. Bei einer gemeinsamen Andacht sprechen wir über die Ängste und Gefühle, die ein so besonderer Abend auslöst. Ich bin jedes Jahr am Heiligen Abend im Hospiz – es ist einfach schön, hier arbeiten zu dürfen."

 

Gerd Cremer

© Martin Steffen

Gerd Cremer

(Institut für Autismus AUTEA, Gelsenkirchen)

WICHTIG IST, WENN ICH DAS GEFÜHL VON FREUNDSCHAFT ERLEBE.


Für Gerd Cremer war es ein langer Weg bis zur Diagnose „bipolare Störung, Borderline, Asperger Autismus“. Davor standen Schulprobleme, Aushilfsjobs, Alkohol, Drogen und ganze 54 Umzüge. Er unterteilt Städte in warm = angenehm und kalt = beängstigend und nimmt Umgebungsreize ohne schützende Filter wahr.

Das Institut für Autismus, AUTEA, in Gelsenkirchen begleitet ihn seit 2023 und so konnte er, bisher undenkbar, vor einiger Zeit sogar ein Spiel auf Schalke miterleben. Seit 1977 schreibt Gerd Cremer – auch zusammen mit anderen Autoren – Kurzgeschichten, Satiren, Hörspiele und Bühnenstücke.

Sie haben viel geschrieben – von Kurzgeschichten über Satire bis hin zu Bühnenstücken. Haben Sie in der Zwischenzeit an weiteren Schreibprojekten gearbeitet oder planen Sie welche? Oder gibt es andere Projekte, die Sie gerade verfolgen?

Diese erhebenden Momente gibt es nicht oft im Leben. Besonders die vielen positiven Rückmeldungen haben mich gefreut.

Außerdem sind meine Ausflüge in die Theaterwelt derzeitig vorrangig. Wir erarbeiten das Projekt „Der Besuch der alten Dame“ von Dürrenmatt in der Theaterwerkstatt (MiR). 26 engagierte Menschen werden bis Juni 2026 das Stück auf die Bühne bringen. Ich darf den Bürgermeister geben. Ich freue mich darauf, stehe aber zugleich auch vor der Herausforderung, mit inzwischen 71 Jahren, tonnenweise Text auswendig zu lernen. Aber das wird schon. Denn mein Fokus liegt komplett auf dem Theaterprojekt, daher schreibe ich derzeit nichts mehr. Ab und an schrecke ich dennoch hoch – Idee! Ab damit ins Ideenbüchlein. Da steht seit vorgestern: Kurzgeschichte schreiben zum Thema „Zwischen Skylla und Charybdis“. Die Wahl zwischen zwei Übeln, ein Dilemma. Ein lohnendes Thema für einen Schriftsteller. Daran werde ich mich setzen, wenn ich den gewaltigen Text des Bürgermeisters im Kopf und die Premiere des Stücks erlebt habe.

Für den Herbst 2025 ist geplant, ein Buch mit 36 Kurzgeschichten unter die Menschen zu bringen. Es wird den Titel „Schörti Schicks Scharb Schord Schdori Schatts“ tragen (Verballhornung von 36 sharp short story shots), 24 Gedichte, 12 Zeichnungen und 36 mitunter recht freche Kurzgeschichten enthalten.
 

In unserem Geschäftsbericht sagten Sie: „Wichtig ist, wenn ich das Gefühl von Freundschaft erlebe.“ In welchen Momenten spüren Sie das in Ihrem Leben (bei AUTEA) besonders?  

Daneben habe ich genau drei Personen in meinem Leben, die ich als Freunde zu betrachten pflege. Das sind zwar wenige, aber mit denen knuddele ich; diesen Menschen vertraue ich blind, auch hier reduziere ich das Masking auf ein erträgliches Minimum, komme aber nicht ganz ohne aus, weil es eben, alle drei, keine Autisten sind. Sie respektieren mich, können mich aber auch nicht gerade ganzheitlich verstehen. Wie auch?! Verstehe ich mich denn selbst? Wohl kaum.

Diese drei Menschen, mir so lieb und wertvoll, und die beiden Betreuer, Frau Celik und Herr Fischer, sind meine Bezugspersonen im Leben. Sonst kenne ich keine Leute, vergesse Gesichter sofort wieder, habe nur subtile Verbindung zu den Kollegen auf der Bühne, quasi „berufsbedingt“. Nie hatte ich sonderlich viele Freunde im Leben. Da waren einige wenige, aber durch die 54 Umzüge hat sich niemals eine tiefere, sehr starke Freundschaft entwickeln können. Ich war in meinem Leben oft in großen Sprüngen umgezogen. Köln – Nürnberg, Mannheim – Wilhelmshaven, Oberasbach – Mönchengladbach etc., so, als wolle ich mich sehr stringenter Art aller bestehender Verbindungen entledigen, um wieder einmal „völlig neu anzufangen“. Mir gab das immer sehr viel, dieses absolute Beginner Feeling. Neue Stadt, neue Leute, völlig neue Orientierung – die nebenbei bei Autisten in der Regel nie sehr stark ausgeprägt ist. Es war schwer, sich in München, Berlin und Hamburg zurechtzufinden, und in der Regel erkundete ich alles zu Fuß.

Menschen, die mir wirklich etwas bedeuten, kann ich daher an einer Hand ablesen. Das klingt jetzt so niedergeschrieben etwas traurig. Aber meine Traurigkeit hält sich in Grenzen. Ich bin diese Seelenschieflage gewohnt.
 

Haben Sie einen besonderen Wunsch zu Weihnachten? 

Mich plagten zurückliegend so einige Zipperlein. Materielle Wünsche habe ich nicht, auch wenn ich Armutsrentner bin und mir quasi rein gar nichts leisten kann. Aber gerne wäre ich deutlich gesünder, nicht so anfällig für Krankheiten. Gerade wurde mir Kleidung gespendet, wofür ich sehr dankbar bin. Wärmende Jacken, Pullover – das ist Weihnachten! Einen besonderen Wunsch habe ich da nicht. Aber, wenn man mal diese fast schon peinliche Floskel bemühen möchte: Ich wünsche mir, dass die Kriege ein Ende finden. Ich bin beunruhigt, denn mit der Ukraine ist ein Krieg doch ziemlich nah. Und wenn er sich ausweitet, die Nato betroffen bzw. miteinbezogen wird, könnten wir die 75 Jahre Friedenszeit hier glatt vergessen und Luftschutzbunker aufsuchen. Also, wenn ich diesen einen Wunsch frei hätte, dann bitte: Keine Kriege mehr auf diesem Planeten!